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Anmerkung zu:LG Kassel 5. Zivilkammer, Urteil vom 29.04.2025 - 5 O 703/21
Autor:Dr. Thomas Münkel, RA und FA für Versicherungsrecht
Erscheinungsdatum:14.11.2025
Quelle:juris Logo
Norm:§ 305c BGB
Fundstelle:jurisPR-VersR 11/2025 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Peter Schimikowski, RA
Zitiervorschlag:Münkel, jurisPR-VersR 11/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Versicherungsfall in der Dread-Disease-Versicherung (hier: Hirninfarkt durch physiotherapeutische Behandlung der Halswirbelsäule)



Orientierungssatz zur Anmerkung

Eine „schwere Kopfverletzung“ im Sinne der Dread-Disease-Versicherung setzt voraus, dass durch eine äußere Einwirkung eine Kopfschädigung mit dauerhaften neurologischen Ausfällen verursacht wird.



A.
Problemstellung
Die Anzahl der veröffentlichten Gerichtsentscheidungen zur Dread-Disease-Versicherung (Schwere-Krankheiten-Versicherung) ist überschaubar, was nicht nur auf die noch immer relativ geringe Marktdurchdringung dieser Versicherung, die allerdings auch als Deckungsbaustein in Lebens- und Berufsunfähigkeitspolicen angeboten wird, sondern auch auf die – verglichen etwa mit einer Berufsunfähigkeitsversicherung – verhältnismäßig leichte Prüfbarkeit des Versicherungsfalls zurückgeführt werden kann. Aber auch die häufig umfangreichen Definitionen der versicherten schweren Krankheiten bieten durchaus Streitpotential, wie eine aktuelle, allerdings noch nicht rechtskräftige Entscheidung des LG Kassel zeigt.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der klagende Versicherungsnehmer nahm den beklagten Versicherer aus einer fondsgebundenen Risiko-Lebensversicherung mit eingeschlossenem Versicherungsschutz für schwere Krankheiten auf Versicherungsleistungen in Anspruch, nachdem er – unstreitig – während einer physiotherapeutischen Behandlung durch eine Überdehnung an der Halswirbelsäule mit Kopfdrehung einen Hirninfarkt erlitten hatte.
Als versicherte schwere Krankheiten waren in den Versicherungsbedingungen u.a. wie folgt definiert:
„Schlaganfall
Ein Schlaganfall (Hirninfarkt, zerebraler Insult, apoplektischer Insult, Apoplex, Gehirnschlag) ist eine plötzlich auftretende Schädigung des Gehirns, hervorgerufen durch eine akute Minderdurchblutung oder eine Hirnblutung. Beide führen zu einem Blut- und Sauerstoffmangel mit Absterben von Gehirnzellen und daraus resultierend zu neurologischen Störungen. Die Hirnzellen bleiben größtenteils irreversibel geschädigt. Eines der folgenden Symptome muss über mindestens 3 Monate ununterbrochen vorgelegen haben und nach aktuellem medizinischen Wissensstand nicht behebbar sein und voraussichtlich auf Dauer fortbestehen:
halbseitige Lähmungen (Hemiplegie/Hemiparese)
Sprachstörungen (Aphasie)
Sehstörungen
Schluckstörungen
Epilepsie oder
Einschränkung der alltäglichen Fähigkeiten auf unter 60 Punkte nach dem Barthel-Index (Index zur Bewertung von alltäglichen Fähigkeiten).“
„Schwere Kopfverletzung
Eine durch Kopfverletzung herbeigeführte irreversible Schädigung des Gehirns mit dauerhaften neurologischen Ausfällen (z.B. Hörstörungen, Sehstörungen, Gefühlsstörungen, Sprechstörungen, Schluckstörungen, Lähmungen, Gehstörungen, Krampfanfällen) oder gravierenden Beeinträchtigungen der intellektuellen Fähigkeiten (z.B. Merkfähigkeitsstörungen, Konzentrationsstörungen, Persönlichkeitsveränderungen u.a.).“
„Schwerer Unfall
Ein schwerer Unfall ist gekennzeichnet durch ein plötzlich von außen auf den Körper des Versicherten einwirkendes Ereignis, bei dem es zu einer der folgenden Beeinträchtigungen kommt:
Dauerhafter und vollständiger Verlust der Gebrauchsfähigkeit mindestens eines Arms und eines Beines oder beider Arme oder beider Beine jeweils oberhalb des Hand- oder Fußgelenks oder
schwere Kopfverletzung mit irreversibler Hirnschädigung und dauerhaften neurologischen Ausfällen oder
tiefe Bewusstlosigkeit von mindestens 96 Stunden Dauer ohne Reaktion auf externe Reize.“
Das LG Kassel hat die Klage abgewiesen, da der Versicherungsnehmer die bedingungsgemäßen Voraussetzungen einer versicherten schweren Krankheit nicht habe nachweisen können.
Zwar habe der Kläger nach dem eingeholten Sachverständigengutachten einen Schlaganfall erlitten. Es fehle aber an dem Nachweis des Vorliegens eines der bedingungsgemäßen Symptome des Schlaganfalls (halbseitige Lähmungen, Sprachstörungen, Sehstörungen, Schluckstörungen, Epilepsie oder eine Einschränkung der alltäglichen Fähigkeiten auf unter 60 Punkte nach dem Barthel-Index). Insbesondere habe der Kläger nach dem Gutachten nicht nachweisen können, dass bei ihm über mindestens drei Monate ununterbrochen Sehstörungen, die nach aktuellem medizinischen Wissensstand nicht behebbar sind und voraussichtlich auf Dauer fortbestehen, oder Einschränkungen der alltäglichen Fähigkeiten auf unter 60 Punkte nach dem Barthel-Index vorgelegen haben.
Aber auch eine schwere Kopfverletzung im Sinne der Bedingungen liege nicht vor. Danach müsse durch eine Kopfverletzung eine irreversible Schädigung des Gehirns mit dauerhaften neurologischen Ausfällen (z.B. Hörstörungen, Sehstörungen, Gefühlsstörungen, Sprechstörungen, Schluckstörungen, Lähmungen, Gehstörungen, Krampfanfällen) oder gravierende Beeinträchtigungen der intellektuellen Fähigkeiten (z.B. Merkfähigkeitsstörungen, Konzentrationsstörungen, Persönlichkeitsveränderungen u.a.) herbeigeführt worden sein. Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch könne der durchschnittliche Versicherungsnehmer den Begriff der Kopfverletzung nur im Sinne einer physischen Einwirkung auf den Kopf verstehen. Zudem werde durch die Verwendung des Partizips „herbeigeführt“ deutlich, dass zwischen der dauerhaften Hirnschädigung und der Kopfverletzung ein ursächlicher Zusammenhang bestehen muss. Die Schädigung des Gehirns müsse durch eine Kopfverletzung ausgelöst worden sein. Es genüge ersichtlich nicht, dass ausschließlich die Hirnschädigung selbst die (innere) Kopfverletzung darstellt. Demgemäß stelle eine Manipulation am Hals, die zu einer Überdehnung an der Halswirbelsäule mit Kopfdrehung geführt hat, keine Kopfverletzung im Sinne der Bedingungen dar. Unabhängig davon fehle es nach der durchgeführten Beweisaufnahme auch an dauerhaften neurologischen Ausfällen oder gravierenden Beeinträchtigungen der intellektuellen Fähigkeiten.
Schließlich sei auch kein schwerer Unfall im Sinne der Versicherungsbedingungen gegeben. Unabhängig davon, ob es sich bei einer Behandlung durch einen Physiotherapeuten in Form der Manipulation am Hals um ein plötzlich von außen auf den Körper wirkendes Ereignis handle, fehle es jedenfalls nach den vorstehenden Erwägungen auch insoweit an einer schweren Kopfverletzung mit irreversibler Hirnschädigung und dauerhaften neurologischen Ausfällen.


C.
Kontext der Entscheidung
Soweit das Landgericht die bedingungsgemäßen Voraussetzungen des Versicherungsfalls „Schlaganfall“, insbesondere die danach erforderlichen Symptome, für nicht nachgewiesen erachtet hat, handelt es sich um eine individuelle Beweiswürdigung auf Grundlage des eingeholten Sachverständigengutachtens.
Von grundsätzlicher Bedeutung ist dagegen die Auslegung der Definition der „schweren Kopfverletzung“. Die am Wortlaut der Bestimmung orientierte Interpretation, wonach für eine Kopfverletzung eine äußere Einwirkung auf den Kopf stattfinden muss, durch die eine Hirnschädigung verursacht wird, ist überzeugend und korrespondiert mit einer vom Landgericht zitierten Entscheidung des OLG Nürnberg (Beschl. v. 04.05.2021 - 8 U 91/21 - VersR 2021, 1227). Es genügt also nicht, dass eine Hirnschädigung durch innerkörperliche Vorgänge wie z.B. ein Blutgerinnsel oder – wie hier – durch eine Einwirkung auf andere Körperteile als den Kopf herbeigeführt wird.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Bestimmungen in Bedingungen zu einer Dread-Disease-Versicherung, in denen versicherte schwere Krankheiten definiert werden, enthalten häufig einschränkende Voraussetzungen, die den Vorstellungen des Versicherungsnehmers vom versicherten Risiko bzw. von der versicherten Erkrankung nicht unbedingt entsprechen mögen.
So fällt, wie nach den Bedingungen, die der besprochenen Entscheidung zugrunde lagen, ein Schlaganfall, sofern zum Katalog der versicherten schweren Krankheiten gehörig, in der Regel nur dann unter den Versicherungsschutz, wenn er zu dauerhaften Einschränkungen etwa der Fähigkeit zu gehen, zur Nahrungsaufnahme, zur Kommunikation über Sprache, zum Verlust der Funktionsfähigkeit von Gliedmaßen oder der Sehfähigkeit führt. Der Versicherungsfall „Schlaganfall“ ist nur eingetreten, wenn auch diese notwendigen Folgen nachgewiesen sind. Entsprechendes gilt für den Versicherungsfall „schwere Kopfverletzung“, der in der Regel eine Hirnschädigung mit dauerhaften neurologischen Ausfällen voraussetzt.
Überraschend i.S.v. § 305c Abs. 1 BGB sind entsprechende Klauseln deshalb nicht ohne Weiteres. Die versicherten schweren Erkrankungen müssen in den Versicherungsbedingungen konkret definiert und dort von ähnlichen oder anderen Erkrankungen und leichteren Erscheinungsformen der jeweiligen Erkrankung abgegrenzt werden. Der Versicherungsnehmer darf sich daher nicht auf die in Überschriften oder Anpreisungen benutzten allgemeinen Bezeichnungen einer versicherten Erkrankung und sein – laienhaftes – Bild von dieser Erkrankung verlassen, sondern muss damit rechnen, dass sich in den Versicherungsbedingungen auch Ausschlüsse für bestimmte Konstellationen oder Ausprägungen der Erkrankung (sekundäre Risikobegrenzungen) finden (OLG Oldenburg, Beschl. v. 10.12.2009 - 5 U 87/09 - VersR 2010, 752; Münkel, jurisPR-VersR 2/2010 Anm. 3).
Für die Auslegung solcher Bestimmungen gelten die für die Auslegung von Versicherungsbedingungen anerkannten Regeln. Dabei wird bei Bestimmungen, in denen (schwere) Erkrankungen definiert werden, ein Teilaspekt der Auslegung von Versicherungsbedingungen in besonderer Weise berührt: Wie sind medizinische Fachbegriffe auszulegen? Teilweise wird angenommen, dass medizinische (Fach-)Begriffe nicht nach dem allgemeinen Sprachgebrauch, sondern stets nach ihrer fachwissenschaftlichen, also medizinischen Bedeutung auszulegen seien (in diesem Sinne wohl OLG Oldenburg, Beschl. v. 10.12.2009 - 5 U 87/09 - VersR 2010, 752). Überwiegend wird eine Differenzierung befürwortet: Danach ist auf die fachwissenschaftliche Bedeutung abzustellen, soweit nicht der allgemeine Sprachgebrauch den verwendeten Begriffen einigermaßen bestimmte, von der Fachterminologie abweichende Bedeutung verliehen hat und der infrage stehende Begriff nicht erkennbar aus der Fachwissenschaft übernommen wurde (in diesem Sinne etwa OLG Karlsruhe, Urt. v. 03.12.1992 - 12 U 45/92 - RuS 1993, 158; LG Saarbrücken, Urt. v. 26.05.2014 - 14 O 254/12 - RuS 2014, 616; ähnlich Armbrüster in: Prölss/Martin, VVG, 32. Aufl., Einl. Rn. 276 m.w.N.; ausführlich zu diesem Thema und zum Meinungsstand Armbrüster, RuS 2023, 837, 846 f. m.w.N.). Dem hat sich auch das Landgericht in der hier besprochenen Entscheidung angeschlossen.
Für die hier maßgebliche Auslegung des Versicherungsfalls „schwere Kopfverletzung“ ist diese Differenzierung jedoch nicht erheblich, da der Begriff der Kopfverletzung sowohl nach dem allgemeinen Sprachgebrauch als auch nach dem fachmedizinischen Verständnis nur im Sinne einer Einwirkung auf den Kopf verstanden werden kann.



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