juris PraxisReporte

Anmerkung zu:EuGH 1. Kammer, Urteil vom 26.09.2024 - C-387/22
Autor:Prof. Dr. Reinhold Thode, RiBGH a.D.
Erscheinungsdatum:21.11.2025
Quelle:juris Logo
Normen:12016E026, jcg-11997E049, 12016E056
Fundstelle:jurisPR-IWR 6/2025 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Ansgar Staudinger, Universität Bielefeld
Zitiervorschlag:Thode, jurisPR-IWR 6/2025 Anm. 1 Zitiervorschlag

Entsendung von Angehörigen eines Mitgliedstaats durch ein Unternehmen eines Mitgliedstaats zur Durchführung von Arbeiten in einem anderen Mitgliedstaat



Orientierungssätze

1. Art. 56 AEUV steht einer Regelung eines Mitgliedstaats (hier: Rumänien) nicht entgegen, die die Gewährung steuerlicher und sozialer Vergünstigungen den Beschäftigten von Unternehmen des Bausektors vorbehält, die ihre Tätigkeiten im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats ausüben und sich in einer vergleichbaren Situation wie die Unternehmen des Bausektors befinden, deren Arbeitnehmer in andere Mitgliedstaaten entsandt werden, sofern diese nationale Regelung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist und verhältnismäßig ist, was bedeutet, dass ihre Anwendung geeignet sein muss, die Erreichung des verfolgten Ziels in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten, und sie nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
2. Im vorliegenden Fall ermöglicht es die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung zwar grundsätzlich, den in Rumänien tätigen Beschäftigten des Bausektors eine Erhöhung des Nettolohns im Umfang der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden steuerlichen und sozialen Vergünstigungen zu gewähren. Es ist jedoch Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob diese Regelung geeignet ist, durch die Verringerung des auf Unionsebene bestehenden Lohngefälles in kohärenter und systematischer Weise den sozialen Schutz der Beschäftigten im Bausektor sicherzustellen, indem es sich insbesondere vergewissert, dass die Unternehmen die erhaltenen steuerlichen und sozialen Vergünstigungen für die den Beschäftigten gezahlten Löhne in der Praxis weitergeben, so dass eine Erhöhung dieser Löhne erfolgt.
3. Das vorliegende Vorabentscheidungsersuchen ist allein im Licht von Art. 56 AEUV zu prüfen; es bedarf keiner Auslegung von Art. 26 AEUV.

A.
Problemstellung
Der EuGH musste sich aufgrund eines Vorabentscheidungsersuchen des Tribunalul Satu Mare (Regionalgericht Satu Mare), vorgelegt mit der Entscheidung vom 02.06.2022, mit der Auslegung des Art. 56 AEUV befassen für die Antwort auf die Vorlagefrage, ob eine nationale Regelung dem Art. 56 AEUV entgegensteht, die die Gewährung steuerlicher und sozialer Vergünstigungen den Beschäftigten von Unternehmern des Bausektors vorbehält, die ihre Tätigkeiten im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats ausüben und sich in einer vergleichbaren Situation wie die Unternehmen des Bausektors befinden, deren Arbeitnehmer in andere Mitgliedstaaten entsandt werden (Vorlagebeschluss Rn. 18, 31). Die Vorlage beruht auf folgender Fallkonstellation: Eine Gesellschaft rumänischen Rechts, die im Bausektor tätig ist, erbringt im Rahmen ihrer Geschäftstätigkeit u. a. Dienstleistungen in Deutschland und Österreich, indem sie Arbeitnehmer zur Ausführung von Bauarbeiten im Hoheitsgebiet dieser beiden Mitgliedstaaten entsendet.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Das Urteil ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Nord Vest Pro Sani Pro SRL (im Folgenden: Nord Vest Pro) auf der einen Seite und der Administraţia Judeteana a Finanţelor Publice Satu Mare (Kreisverwaltung für öffentliche Finanzen Satu Mare, Rumänien) sowie der Direcţia Generala Regional a Finanţelor Publice Cluj-Napoca (Regionale Generaldirektion für öffentliche Finanzen Cluj-Napoca [Klausenburg], Rumänien) (im Folgenden: Finanzbehörden) auf der anderen Seite über die Weigerung der Finanzbehörden, den Beschäftigten des Bausektors, die ihre Tätigkeiten in anderen Mitgliedstaaten ausüben, die steuerlichen und sozialen Vergünstigungen zuzuerkennen, die den im rumänischen Hoheitsgebiet tätigen Beschäftigten dieses Sektors gewährt werden.
Ausgangsverfahren und Vorlagefrage
Nachdem die Finanzbehörden bei dieser Gesellschaft eine Prüfung durchgeführt hatten, wurde am 10.05.2021 ein Steuerbescheid erlassen. Den Finanzbehörden zufolge war die Gesellschaft zu Unrecht davon ausgegangen, dass ihre Beschäftigten, die in Deutschland und Österreich Bauarbeiten ausführten, in den Genuss der in Art. 60 Nr. 5 Steuergesetzbuch vorgesehenen Befreiung von der Einkommensteuer kämen. Nach Art. 78 II Buchst. a des Steuergesetzbuchs betrage der auf diese Beschäftigten anwendbare Steuersatz 10 % des Einkommens. Außerdem habe Nord Vest Pro zu Unrecht angenommen, dass die Herabsetzung des Beitragssatzes zur Sozialversicherung bzw. die Befreiung von der Entrichtung der Krankenversicherungsbeiträge auf ins Ausland entsandte Beschäftigte anwendbar seien, obwohl für diese Kategorie von Beschäftigten die im Steuergesetzbuch vorgesehenen Sätze gälten.
Der von Nord Vest Pro gegen den berichtigten Steuerbescheid eingelegte Einspruch wurde von der regionalen Generaldirektion für öffentliche Finanzen Cluj-Napoca mit zurückgewiesen. Gegen diesen ablehnenden Bescheid erhob die Gesellschaft Klage beim vorlegenden Gericht, dem Tribunalul Satu Mare.
Indem der Erlass der Regierung die Vergünstigungen auf diese Beschäftigten beschränkt habe, habe der rumänische Gesetzgeber den in Rumänien tätigen Unternehmen des Bausektors eine günstigere steuerliche Behandlung gewährt als Unternehmen, die im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten tätig seien. Dieser gesetzgeberische Ansatz stehe jedoch im Widerspruch zur Schaffung eines Binnenmarkts und damit zu einem der Hauptziele der Europäischen Union. Denn durch eine solche steuerliche Behandlung würden Unternehmen des Bausektors, die ihre Tätigkeiten außerhalb des rumänischen Hoheitsgebiets ausübten, höher besteuert werden als die im nationalen Hoheitsgebiet tätigen Unternehmen und dadurch davon abgebracht werden, Bauleistungen außerhalb Rumäniens zu erbringen, was de facto ein wesentliches Hindernis für die Vollendung des Binnenmarkts bilde.
Unter diesen Umständen hat das Tribunalul Satu Mare (Regionalgericht Satu Mare) das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH seine Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Zur Vorlagefrage
Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Art. 26 und 56 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die die Gewährung steuerlicher und sozialer Vergünstigungen den Beschäftigten von Unternehmen des Bausektors vorbehält, die ihre Tätigkeiten im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats ausüben.
Vorab ist zum einen festzustellen, dass, soweit sich die Vorlagefrage auf Art. 26 AEUV bezieht, diese Vorschrift als eigenständige Grundlage nur auf unionsrechtlich geregelte Fallgestaltungen angewandt werden kann, für die der Vertrag keine besonderen Vorschriften vorsieht.
Was Art. 56 AEUV betrifft, auf den sich die Vorlagefrage bezieht, ergibt sich keine Notwendigkeit einer Umformulierung des Vorabentscheidungsersuchens. Dieses Ersuchen bezieht sich nämlich auf eine Situation, in der die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Gesellschaft „für Beschäftigte, die in Deutschland und Österreich Dienstleistungen erbringen“, nicht in den Genuss der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden steuerlichen und sozialen Vergünstigungen kam.
Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine nationale Regelung über den vorübergehenden Ortswechsel von Arbeitnehmern, die in einen anderen Mitgliedstaat entsandt werden, um dort im Rahmen von Dienstleistungen ihres Arbeitgebers Bauarbeiten auszuführen, und nach Erfüllung ihrer Aufgabe in ihr Herkunftsland zurückkehren, ohne zu irgendeinem Zeitpunkt auf dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats aufzutreten, in den Bereich des freien Dienstleistungsverkehrs fällt.
Zum Vorliegen einer Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs
Art. 56 AEUV steht einer nationalen Regelung entgegen, die die Erbringung von Dienstleistungen zwischen Mitgliedstaaten gegenüber der Erbringung von Dienstleistungen innerhalb nur eines Mitgliedstaats erschwert.
Aus der Vorlageentscheidung und den dem EuGH vorliegenden Akten geht hervor, dass die Finanzbehörden die im Steuergesetzbuch vorgesehenen Vergünstigungen in Bezug auf die in das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich entsandten Beschäftigten der Klägerin des Ausgangsverfahrens im Einklang mit den anwendbaren Rechtsvorschriften versagt haben, während diese Vergünstigungen den im rumänischen Hoheitsgebiet tätigen Beschäftigten gewährt werden. Diese Vergünstigungen bestehen erstens in der Befreiung dieser Beschäftigten von der Einkommensteuer, zweitens in der Herabsetzung ihrer Sozialversicherungsbeiträge und drittens in der Befreiung von der Entrichtung ihrer Krankenversicherungsbeiträge.
Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs sind solche nationalen Maßnahmen, die die Ausübung dieser Freiheit verbieten, behindern oder weniger attraktiv machen.
Allerdings ist eine Regelung, mit der ein unterschiedliches Steuer- und Sozialsystem eingeführt wird, je nachdem, ob die betreffenden Beschäftigten ihre Arbeitsaufträge in dem betreffenden Mitgliedstaat oder in anderen Mitgliedstaaten ausführen, geeignet, rumänische Unternehmen davon abzubringen, Bauleistungen in einem anderen Mitgliedstaat durch die Entsendung von Beschäftigten in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats zu erbringen, auch wenn diese Regelung unterschiedslos auf rumänische und ausländische Unternehmen des Bausektors, die im Hoheitsgebiet Rumäniens tätig sind, anwendbar ist.
Solche Maßnahmen zugunsten der Beschäftigten sind nämlich, vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht, auch geeignet, die Arbeitskosten zu senken und damit den Unternehmen, sofern ihre Tätigkeiten im rumänischen Hoheitsgebiet ausgeübt werden, einen Vorteil zu verschaffen, da sie die Erbringung von Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat weniger attraktiv machen.
Um festzustellen, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung trotz ihrer beschränkenden Wirkung als mit dem freien Dienstleistungsverkehr i.S.v. Art. 56 AEUV vereinbar angesehen werden kann, ist zu prüfen, ob die sich aus ihr ergebende Ungleichbehandlung entweder Situationen betrifft, die nicht objektiv miteinander vergleichbar sind, oder ob sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist.
Zum Vorliegen objektiv vergleichbarer Situationen
Bei der Prüfung der Vergleichbarkeit einer grenzüberschreitenden Situation mit einer mitgliedstaatsinternen Situation sind das mit den in Rede stehenden nationalen Vorschriften verfolgte Ziel sowie ihr Zweck und ihr Inhalt zu berücksichtigen.
Für die Beurteilung, ob die unterschiedliche Behandlung aufgrund einer derartigen Regelung einem objektiven Unterschied der Situationen entspricht, sind nur die von der betreffenden Regelung aufgestellten maßgeblichen Unterscheidungskriterien zu berücksichtigen.
Bei der Prüfung, ob sich die Situation der Unternehmen des Bausektors, deren Beschäftigte im rumänischen Hoheitsgebiet arbeiten, und diejenige der Unternehmen, die Bauleistungen in anderen Mitgliedstaaten erbringen, voneinander unterscheiden, besteht die Schwierigkeit indessen darin, dass das vorlegende Gericht das mit den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden steuerlichen und sozialen Vergünstigungen verfolgte Ziel in keiner Weise darlegt.
Womöglich gelangt das vorlegende Gericht zu der Auffassung, dass, wie die rumänische Regierung geltend macht, die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung darauf abzielt, den Nettolohn der im Bausektor in Rumänien tätigen Beschäftigten zu erhöhen.
Obwohl insoweit die staatlichen Statistiken der rumänischen Regierung zufolge belegen, dass die in Rumänien tätigen Beschäftigten auch bei Inanspruchnahme der gewährten Vergünstigungen Löhne erhielten, die deutlich unter den Mindestlöhnen in anderen Mitgliedstaaten wie der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich lägen, schließen diese Statistiken nicht aus, dass diese Beschäftigten in bestimmten Fällen die gleichen Löhne erhalten könnten wie diejenigen Beschäftigten, die in anderen Mitgliedstaaten Bauleistungen erbringen, da nach den Angaben in den dem Gerichtshof vorliegenden Akten die Befreiung von der Einkommensteuer für monatliche Bruttoeinkommen von bis zu 30 000 RON gilt.
Unter diesen Umständen entspricht die unterschiedliche Behandlung, die mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung vorgenommen wird, offenbar keinem objektiven Unterschied der Situationen, was zu prüfen jedoch Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Zum Bestehen eines zwingenden Grundes des Allgemeininteresses
Die rumänische Regierung macht im Wesentlichen geltend, dass diese Regelung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sei, die in erster Linie das Erfordernis beträfen, den sozialen Schutz der Beschäftigten im Bausektor sicherzustellen und angemessene Arbeitsbedingungen im Rahmen des Binnenmarkts durch Verringerung des auf Unionsebene bestehenden Lohngefälles zu gewährleisten, sodann das Ziel, Schwarzarbeit und dadurch Steuerhinterziehung zu bekämpfen, und schließlich spezifische Probleme des rumänischen Bausektors, die mit dem Arbeitskräftemangel zusammenhingen, mit dem dieser Sektor konfrontiert sei, da aus Lohngründen eine besorgniserregende Abwanderung ins Ausland von qualifizierten Beschäftigten in diesem Bereich stattfinde.
Hinsichtlich des Erfordernisses, den sozialen Schutz der Beschäftigten dieses Sektors sicherzustellen und angemessene Arbeitsbedingungen zu gewährleisten, ist darauf hinzuweisen, dass zu den vom Gerichtshof anerkannten zwingenden Gründen des Allgemeininteresses sowohl der Schutz der Arbeitnehmer als auch die Aufrechterhaltung und die Förderung der Beschäftigung zu den legitimen Zielen der Sozialpolitik gehören.
Als zwingende Gründe des Allgemeininteresses hat der Gerichtshof auch die Bekämpfung von Betrug, insbesondere Sozialbetrug, und die Verhinderung von Missbräuchen anerkannt.
Die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung ermöglicht es grundsätzlich, den in Rumänien tätigen Beschäftigten des Bausektors eine Erhöhung des Nettolohns im Umfang der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden steuerlichen und sozialen Vergünstigungen zu gewähren. Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob diese Regelung geeignet ist, durch die Verringerung des auf Unionsebene bestehenden Lohngefälles in kohärenter und systematischer Weise den sozialen Schutz der Beschäftigten im Bausektor sicherzustellen, indem es sich insbesondere vergewissert, dass die Unternehmen die erhaltenen steuerlichen und sozialen Vergünstigungen für die den Beschäftigten gezahlten Löhne in der Praxis weitergeben, so dass eine Erhöhung dieser Löhne erfolgt.
Sollte diese Regelung als geeignet anzusehen sein, die Erreichung der verfolgten Zielsetzung in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten, darf sie zudem nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
Was als Zweites die Bekämpfung von Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung betrifft, stellen sowohl die Bekämpfung der Schwarzarbeit als auch die Notwendigkeit, die Effizienz der Beitreibung der Steuer zu gewährleisten, sowie die Bekämpfung der Steuerhinterziehung ebenfalls zwingende Gründe des Allgemeininteresses dar, die Beschränkungen der Ausübung der vom AEUV garantierten Verkehrsfreiheiten rechtfertigen können.
Insofern genügt der Hinweis, dass die Bekämpfung von Schwarzarbeit und Steuerhinterziehung es nicht rechtfertigen kann, ausschließlich den Unternehmen, deren Beschäftigte ihre Arbeitsleistungen in einem anderen Mitgliedstaat erbringen, die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden steuerlichen und sozialen Vergünstigungen zu versagen. Es kann nämlich nicht unterstellt werden, dass die Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs zu Betrugsfällen führt.
Was als Drittes die spezifischen Probleme des rumänischen Bausektors betrifft, können rein wirtschaftliche Gründe, wie u.a. die Förderung der nationalen Wirtschaft oder deren gutes Funktionieren, keine Beeinträchtigungen rechtfertigen, die gemäß dem Vertrag verboten sind.
Indessen können Erwägungen im Zusammenhang mit dem Ziel der Bekämpfung systemischer Risiken, mit denen ein Mitgliedstaat in einem Sektor von gewisser Bedeutung für seine Entwicklung, z.B. dem Bausektor, um die Funktionsfähigkeit oder den Fortbestand dieses Sektors zu gewährleisten, zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gleichkommen, die eine Beschränkung der vom AEUV garantierten Grundfreiheiten rechtfertigen können. Die nationale Regelung, mit der allein Unternehmen, deren Beschäftigte ihre Arbeitsleistungen in diesem Mitgliedstaat erbringen, steuerliche und soziale Vergünstigungen gewährt werden, muss jedoch geeignet sein, die Erreichung des verfolgten Ziels in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten, und darf nicht über das hinausgehen, was hierzu erforderlich ist, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist.
Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, die die Gewährung steuerlicher und sozialer Vergünstigungen den Beschäftigten von Unternehmen des Bausektors vorbehält, die ihre Tätigkeiten im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats ausüben und sich in einer vergleichbaren Situation wie die Unternehmen des Bausektors befinden, deren Arbeitnehmer in andere Mitgliedstaaten entsandt werden, sofern diese nationale Regelung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist und verhältnismäßig ist, was bedeutet, dass ihre Anwendung geeignet sein muss, die Erreichung des verfolgten Ziels in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten, und sie nicht über das hinausgehen darf, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.


C.
Kontext der Entscheidung
Die Vorabentscheidung betrifft eine Situation, in der ein Unternehmen aus einem Mitgliedstaat als Arbeitgeber seine Arbeitnehmer während eines begrenzten Zeitraums im Rahmen einer Dienstleistungserbringung in einem anderen Mitgliedstaat arbeiten lässt; es geht darum, wie sich ein Entsendemitgliedstaat mit niedrigem Lohnniveau dagegen wehren kann, dass Entsendungen für seine Unternehmen und deren Arbeitnehmer interessanter sind als Dienstleistungen im eigenen Mitgliedstaat zu erbringen (s. Anm. zum Besprechungsurteil Killmann, EuZW 2024, 1107). Mit diesem Urteil bestätigt der EuGH seine ständige Rechtsprechung, dass eine nationale Regelung über den vorübergehenden Ortswechsel von Arbeitnehmern, die in einen anderen Mitgliedstaat entsandt werden, um dort im Rahmen von Dienstleistungen ihres Arbeitgebers Bauarbeiten auszuführen, und nach Erfüllung ihrer Aufgabe in ihr Herkunftsland zurückkehren, ohne zu irgendeinem Zeitpunkt auf dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats aufzutreten, in den Bereich des freien Dienstleistungsverkehrs des Art. 56 AEUV (Rn. 36 des Besprechungsurteils m.w.N.; Anm. Killmann, EuZW 2024, 1107; EuGH, Urt. v. 27.03.1990 - C-113/89 Rn. 15 - EuZW 1990, 256 „Rush Portuguesa“; EuGH, Urt. v. 03.04.2008 - C-346/06 Rn. 37 - EuZW 2008, 332 = BauR 2008, 1295 „Rüffert“ m. Anm. Heuschmid, jurisPR-ArbR 29/2008 Anm. 2; Scherer-Leydecker, EWiR 2008, 375; s. zu Art. 56 AEUV, ex Art. 49 EGV). Damit hat der EuGH die Fallkonstellation des Falles, der dem Vorlagebeschluss zugrunde liegt, der Regelung des Art. 56 AEUV zugeordnet (Rn. 37 des Besprechungsurteils) mit der Konsequenz, dass die bisherigen Grundsätze der Rechtsprechung des EuGH zur Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs anwendbar sind (Rn. 38 bis 45 des Besprechungsurteils m.w.N.).
Anschließend prüft der EuGH auf der Grundlage seiner bisherigen Rechtsprechung die Vergleichbarkeit einer grenzüberschreitenden mit einer mitgliedstaatsinternen Situation (Rn. 46 bis 53 des Besprechungsurteils m.w.N.) mit dem Ergebnis, dass in dem Fall, der dem Vorlagebeschluss zugrunde liegt, kein objektiver Unterschied der Situationen gegeben ist; der EuGH weist darauf hin, dass diese Prüfung dem vorlegenden Gericht obliegt (Rn. 53 des Besprechungsurteils).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Von beachtlicher Bedeutung für die Praxis sind der Erwägungen des EuGH zu den einzelnen Rechtfertigungsgründen. Der EuGH hat erstmals geklärt, dass nationale Maßnahmen zur Entsendung von Arbeitnehmern sowohl des Aufnahmemitgliedstaats als auch des Entsendemitgliedstaats nach der Dienstleistungsfreiheit und den dazu vom EuGH für die Voraussetzungen der Beschränkungen entwickelten Grundsätze zu beurteilen sind (Anm. Killmann, EuZW 2024, 1107 a.E. unter Praxisfolgen). Diese Grundsätze sind nicht auf Abgaben beschränkt, sie gelten für alle Rechtsbereiche, die der Dienstleistungsfreiheit unterliegen, vor allem für das Arbeits- und Sozialrecht (Anm. Killmann, EuZW 2024, 1107 a.E. unter Praxisfolgen).
Der EuGH nennt erstmalig als möglichen Rechtfertigungsgrund für eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit die Gefahr systemischer Risiken für einen bestimmten Wirtschaftssektor in einem Mitgliedstaat; der EuGH verweist für diesen Rechtsfertigungsgrund auf die Erwägungen der Generalanwältin in Rn. 45, 46 und 48 ihres Schlussantrags vom 09.11.2023 (Rn. 64 des Besprechungsurteils; Anm. Killmann, EuZW 2024, 1107). Killmann vertritt die Ansicht, dass dieser Rechtfertigungsgrund Anlass für weitere Rechtsprechung bietet (Anm. Killmann, EuZW 2024, 1107).



Immer auf dem aktuellen Rechtsstand sein!

IHRE VORTEILE:

  • Unverzichtbare Literatur, Rechtsprechung und Vorschriften
  • Alle Rechtsinformationen sind untereinander intelligent vernetzt
  • Deutliche Zeitersparnis dank der juris Wissensmanagement-Technologie
  • Online-First-Konzept

Testen Sie das juris Portal 30 Tage kostenfrei!

Produkt auswählen

Sie benötigen Unterstützung?
Mit unserem kostenfreien Online-Beratungstool finden Sie das passende Produkt!