Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Klägerin, seit Januar 2010 bei einem kirchlichen Träger beschäftigt, war vom 31.07.2015 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 30.06.2023 ununterbrochen arbeitsunfähig erkrankt. Sie forderte von dem beklagten Arbeitgeber eine Urlaubsabgeltung für 144 nicht genommene gesetzliche Urlaubstage der Jahre 2016 bis 2021 i.H.v. 16.908,92 Euro. Der Arbeitsvertrag sah vor, dass gesetzliche Urlaubsansprüche im Krankheitsfall nicht verfallen. Zugleich wurde arbeitsvertraglich die Geltung der AVR-DD vereinbart, die Bestimmungen zum Verfall von Urlaub enthalten.
Die Klägerin meint, der gesetzliche Mindesturlaub, den sie wegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit bis zum Ablauf des Übertragungszeitraums nicht habe nehmen können, sei aufgrund der arbeitsvertraglichen Regelung nicht verfallen und bestehe auf unbestimmte Zeit fort. Die arbeitsvertragliche Klausel enthalte eine eigenständige Regelung, die Vorrang vor den Bestimmungen der AVR-DD sowie den gesetzlichen Vorgaben des BUrlG zum Urlaubsverfall habe und diese verdränge.
Das ArbG Wuppertal wies die Klage insoweit ab, das LArbG Düsseldorf gab ihr statt. Die hiergegen gerichtete Revision des Beklagten blieb vor dem BAG erfolglos. Nach Auffassung des BAG sei der Verfall des gesetzlichen Mindesturlaubs arbeitsvertraglich wirksam ausgeschlossen worden.
Das BAG stellt zunächst fest, dass die Urlaubsansprüche der Klägerin dem Grunde nach entstanden seien. Diese seien nicht erloschen. Sei der Arbeitnehmer – wie hier die Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum – seit Beginn des Urlaubsjahres durchgehend bis zum 31.03. des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres, d.h. bis 15 Monate nach Beendigung des Urlaubsjahres, arbeitsunfähig, verfalle der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub bei unionsrechtskonformer Auslegung von § 7 Abs. 3 BUrlG unabhängig davon, ob der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachgekommen sei. Der 15-monatige Übertragungszeitraum gelte auch dann für den gesetzlichen Mindesturlaub, wenn eine kollektivrechtliche Vereinbarung dem Arbeitnehmer einen den Mindesturlaub übersteigenden Urlaubsanspruch einräume, jedoch – wie § 28 Abs. 7 AVR-DD – für den Gesamturlaubsanspruch einheitlich einen kürzeren Übertragungszeitraum für den Fall einer Langzeiterkrankung vorsehe. Eine solche Regelung sei bezüglich des gesetzlichen Urlaubs gemäß § 134 BGB i.V.m. § 13 Abs. 1 Satz 1 bzw. 3 BUrlG teilweise nichtig. An ihre Stelle trete § 7 Abs. 3 BUrlG in seiner unionsrechtskonformen Auslegung.
Hier fänden jedoch weder die in den AVR-DD enthaltene Verfallregelung noch der 15-monatige Übertragungszeitraum Anwendung. Das BAG stellt klar, dass der Verfall des gesetzlichen Mindesturlaubs bei Langzeiterkrankung zugunsten der Klägerin wirksam ausgeschlossen worden sei. Die gesetzlichen Urlaubsansprüche seien folglich abzugelten.
Zur Begründung führt das BAG aus, die Parteien hätten arbeitsvertraglich ausdrücklich vereinbart, dass der gesetzliche Mindesturlaub bei langandauernder Erkrankung nicht dem zeitlichen Verfall unterliege. Mit dieser individualvertraglichen Regelung sei die gesetzliche Vorgabe modifiziert und ein Verfall der Urlaubsansprüche zugunsten der Klägerin wirksam ausgeschlossen worden. Insofern sei die Verfallsregelung des § 7 Abs. 3 BUrlG in unionsrechtskonformer Auslegung nicht anwendbar. Die Vertragsklausel verdränge folglich die kollektivrechtlichen und gesetzlichen Bestimmungen.
Dies ergebe die Auslegung der Regelung des Arbeitsvertrags. Die Vertragsklausel sei als AGB gemäß § 305 Abs. 1 BGB nach dem objektiven Empfängerhorizont aus Sicht eines verständigen Arbeitnehmers auszulegen. Aus dem Wortlaut folge eindeutig, dass der Urlaub über den Übertragungszeitraum hinaus nicht verfallen solle. Es handle sich hierbei nicht nur um eine deklaratorische Regelung, sondern um eine eigenständige und abschließende Vereinbarung. Wählten die Parteien eine von den arbeitsvertraglich in Bezug genommenen AVR-DD abweichende Systematik für den Verfall von Urlaub, regle die im Arbeitsvertrag getroffene Bestimmung den Sachverhalt insoweit abschließend. Insofern könne auch nicht „ergänzend“ auf den arbeitsvertraglich in Bezug genommenen § 28 Abs. 7 AVR-DD zum Verfall von Urlaub zurückgegriffen werden.
Das BAG stellt zudem klar, dass die Auslegung der arbeitsvertraglichen Bestimmung zugunsten der Klägerin im Einklang mit den Vorgaben des Art. 7 der Richtlinie 2003/88/EG stehe. Der Verfall gesetzlicher Urlaubsansprüche bei einer langandauernden Erkrankung folge gerade nicht unmittelbar und zwingend aus dem Unionsrecht. Insofern verstoße die Anwendung einer für den Arbeitnehmer günstigeren individualrechtlichen Regelung, die den Verfall ausschließe, auch nicht gegen unionsrechtliche Vorgaben.
Eine Unwirksamkeit der AGB ergebe sich auch nicht aus dem kirchlichen Arbeitsrecht. Da sich die Parteien arbeitsvertraglich individueller Gestaltungsformen bedient hätten, richte sich die Auslegung des Arbeitsvertrags nach staatlichem Arbeitsrecht. Vor diesem Hintergrund liege keine Verletzung des gemäß Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV verfassungsrechtlich garantierten kirchlichen Selbstbestimmungs- und Selbstverwaltungsrechts der Beklagten vor.
Auswirkungen für die Praxis
Das Urteil stärkt die Vertragsfreiheit der Parteien – auch im kirchlichen Bereich. Die Entscheidung des BAG, dass individualvertragliche Vereinbarungen vorrangig vor kollektivrechtlichen Regelwerken und gesetzlichen Vorschriften zu berücksichtigen sind, sofern sie nicht gegen zwingendes Recht verstoßen, schafft einerseits Rechtsklarheit, führt aber andererseits zu einer gewissen Rechtsunsicherheit, da vergleichbare Fälle je nach individueller Vertragsgestaltung unterschiedlich bewertet werden können.
Das BAG weist die Risiken von sich widersprechenden Rechtsquellen dem Arbeitgeber zu und stärkt die Rechte von Arbeitnehmern, indem individualvertragliche Regelungen, die den Verfall des gesetzlichen Mindesturlaubs bei Langzeiterkrankung ausschließen, Vorrang vor der 15-monatigen Verfallfrist haben. Dadurch können Urlaubsansprüche auch über Jahre fortbestehen und im Fall einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu erheblichen Abgeltungsansprüchen führen. Es gilt hier der Grundsatz: Augen auf bei der Vertragsgestaltung. Ansonsten kann es schnell teuer werden, da sich Arbeitgeber nicht mehr erfolgreich auf kollektivrechtliche Regelungen oder gesetzliche Fristen berufen können, wenn sie individuell davon abweichen. Arbeitgeber sind entsprechend gehalten, die genutzten Arbeitsvertragsmuster besonders sorgfältig zu formulieren.