juris PraxisReporte

Anmerkung zu:BFH 7. Senat, Urteil vom 15.11.2022 - VII R 55/20
Autor:Dieter Steinhauff, RiBFH a.D.
Erscheinungsdatum:30.05.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 25 AO 1977, § 185 InsO, § 193 VVG, § 234 AO 1977, Art 3 GG, Art 2 GG, Art 20 GG, § 238 AO 1977, § 3 AO 1977, § 233 AO 1977, § 28 ErbStG 1974, § 12 InvZulG 2010, § 111 BranntwMonG, § 233a AO 1977, § 237 AO 1977, § 235 AO 1977, § 240 AO 1977, § 11 FGO, § 363 AO 1977, § 218 AO 1977, § 227 AO 1977
Fundstelle:jurisPR-SteuerR 22/2023 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Peter Fischer, Vors. RiBFH a.D.
Prof. Dr. Franz Dötsch, Vors. RiBFH a.D.
Zitiervorschlag:Steinhauff, jurisPR-SteuerR 22/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Verfassungsmäßigkeit von Säumniszuschlägen



Leitsatz

Gegen die Höhe des Säumniszuschlags nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO bestehen auch bei einem strukturellen Niedrigzinsniveau keine verfassungsrechtlichen Bedenken.



A.
Problemstellung
Der BFH verneint verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Höhe des Säumniszuschlags nach § 240 Abs. 1 Satz 1 AO, und zwar auch bei einem strukturellen Niedrigzinsniveau im Rahmen der vom BVerfG ausdrücklich geforderten eigenständigen Prüfung der Teilverzinsungstatbestände sowie der Säumniszuschläge.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger wurde im April 2016 zum Insolvenzverwalter über das Vermögen des Insolvenzschuldners Z bestellt. Im Juni 2016 meldete das beklagte FA verschiedene Abgabenforderungen zur Tabelle an, u.a. auch Säumniszuschläge für den Zeitraum März 2015 bis April 2016. Der Kläger bestritt die vom FA angemeldeten Forderungen im Prüfungstermin im Juli 2016. Mit Schreiben vom 07.09.2017 erließ das FA die Hälfte der zur Insolvenztabelle angemeldeten Säumniszuschläge. Da der Kläger die Forderungsanmeldung weiterhin bestritt, stellte das FA mit Feststellungsbescheid gemäß § 251 Abs. 3 AO vom 13.11.2017 Insolvenzforderungen in Höhe von insgesamt 28.005 Euro fest. Darin waren auch die Säumniszuschläge in Höhe von (nunmehr) insgesamt 576,50 Euro enthalten. Der gegen den Feststellungsbescheid gerichtete Einspruch des Klägers blieb erfolglos.
Das FG Hamburg (Urt. v. 01.10.2020 - 2 K 11/18 - EFG 2020, 1815) entschied, dass die Säumniszuschläge hinsichtlich eines möglichen Zinsanteils weder ganz noch teilweise gegen das Verfassungsrecht verstießen.
Der BFH wies die Revision des Klägers als unbegründet zurück. Das FG habe zutreffend entschieden, dass der streitgegenständliche Feststellungsbescheid rechtmäßig sei.
I. Die allgemeinen Voraussetzungen für den Erlass eines Feststellungsbescheids gemäß § 185 Satz 1 InsO i.V.m. § 251 Abs. 3 AO seien erfüllt. Die Feststellung der nach dem hälftigen Erlass noch verbliebenen Säumniszuschläge sei rechtmäßig und verstoße nicht gegen Verfassungsrecht.
Werde eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstags entrichtet, so sei für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Säumniszuschlag von 1% des abgerundeten rückständigen Steuerbetrags zu entrichten (§ 240 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AO). Säumniszuschläge fielen nach dem Gesetz unabhängig davon an, ob eine Steuer zutreffend festgesetzt werde; nach § 240 Abs. 1 Satz 4 Halbsatz 1 AO bleiben die verwirkten Säumniszuschläge unberührt, wenn die Festsetzung einer Steuer aufgehoben oder geändert werde (vgl.a. BFH, Urt. v. 18.09.2018 - XI R 36/16 - BStBl II 2019, 87 Rn. 32; Anm. Steinhauff, jurisPR-SteuerR 7/2019 Anm. 3).
Im Streitfall sei die Höhe der Säumniszuschläge unstreitig zutreffend berechnet worden. Die Säumniszuschläge seien entsprechend der bisherigen Rechtsprechung wegen der Insolvenz des Z zur Hälfte erlassen worden.
II. Gegen die Höhe der Säumniszuschläge bestünden keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
Die vom BVerfG in seinem Beschluss vom 08.07.2021 (1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 - BGBl I 2021, 4303 = NJW 2021, 3309) herausgearbeiteten Grundsätze, nach denen die Verzinsung nach den §§ 233a, 238 AO i.H.v. 0,5% pro Monat für Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2014 mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar sei, ließen sich nicht auf Säumniszuschläge übertragen (vgl. BFH, Beschl. v. 28.10.2022 - VI B 15/22 (AdV) - BStBl II 2023, 12 Rn. 23; a.A. BFH, Beschl. v. 11.11.2022 - VIII B 64/22 (AdV) Rn. 18; Anm. Steinhauff, jurisPR-SteuerR 4/2023 Anm. 2).
Anknüpfungspunkt für die vom BVerfG in seiner Entscheidung als verfassungswidrig angesehene Ungleichbehandlung sei die in § 233a Abs. 2 Satz 1 AO geregelte fünfzehnmonatige Karenzzeit, welche nach Ansicht des BVerfG zu einer verfassungsrechtlich relevanten Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der Steuerpflichtigen führe, nämlich derjenigen Steuerschuldner, deren Steuer erst nach Ablauf der Karenzzeit (zutreffend) festgesetzt worden sei, gegenüber denjenigen, deren Steuer bereits innerhalb der Karenzzeit endgültig festgesetzt worden sei, mithin eine Ungleichbehandlung zinszahlungspflichtiger gegenüber nicht zinszahlungspflichtigen Steuerschuldnern (vgl. BVerfG, Beschl. v. 08.07.2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 - NJW 2021, 3309 Rn. 104).
Das BVerfG sehe die verfassungsrechtlich relevante Ungleichheit folglich nicht in einer rechtfertigungsbedürftigen Ungleichbehandlung innerhalb der Gruppe der Zinszahlungspflichtigen in dem Sinne, dass sie im Binnenverhältnis durch die Bestimmung des Zinssatzes nicht rechtlich und tatsächlich gleichmäßig belastet würden, sondern allein in einer rechtfertigungsbedürftigen Ungleichbehandlung der nach § 233a AO zinszahlungspflichtigen gegenüber den nicht zinszahlungspflichtigen Steuerschuldnern durch die typisierende Annahme eines durch eine späte Steuerfestsetzung entstandenen potentiellen Liquiditätsvorteils in Höhe von monatlich 0,5% Zinsen (BVerfG, Beschl. v. 08.07.2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 - NJW 2021, 3309 Rn. 105).
Dabei spiele die Frage, ob ein Zinssatz von monatlich 0,5% den durch eine Vollverzinsung zulasten der Steuerpflichtigen auszugleichenden Vorteil der Höhe nach realitätsgerecht abbilde, erst in der anschließenden Rechtfertigungsprüfung nach strengeren Verhältnismäßigkeitsanforderungen eine Rolle (vgl. BVerfG, Beschl. v. 08.07.2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 - NJW 2021, 3309 Rn. 109 ff. und 116 ff.). Das BVerfG habe diesen potentiell entstehenden Vorteil mit dem monatlichen Zinssatz von 0,5% ab 2014 als nicht mehr realitätsgerecht bemessen angesehen (BVerfG, Beschl. v. 08.07.2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 - NJW 2021, 3309 Rn. 203 ff.).
III. Insbesondere mit Blick auf die ansonsten bestehenden erheblichen haushaltswirtschaftlichen Unsicherheiten habe das BVerfG allerdings hinsichtlich der Zinshöhe nach den §§ 233a , 238 AO eine Fortgeltungsanordnung für Verzinsungszeiträume bis zum 31.12.2018 getroffen. Da das BVerfG jedoch ausdrücklich nur über die Verfassungsmäßigkeit der Nachzahlungszinsen gemäß den §§ 233a , 238 AO und nicht auch der Teilverzinsungstatbestände und des Säumniszuschlags entschieden habe und es ferner fraglich sei, ob den staatlichen Einnahmen aus § 240 AO eine ähnliche haushaltswirtschaftliche Bedeutung wie den Nachzahlungszinsen zukomme und ob das BVerfG auch bei einer Verfassungswidrigkeit des § 240 AO eine Fortgeltung bis zum 31.12.2018 anordnen würde, sei die Frage der Verfassungswidrigkeit der Säumniszuschläge im Streitfall zu entscheiden, obwohl der Streitzeitraum vor dem 31.12.2018 liege.
Hinsichtlich der Säumniszuschläge fehle es bereits an einer Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte; eine Ungleichbehandlung zwischen zinszahlungspflichtigen Steuernachzahlern und säumniszuschlagszahlungspflichtigen Steuerpflichtigen sei mangels vergleichbarer Sachverhalte nicht gegeben.
IV. Die nach § 233a AO geregelte Vollverzinsung solle stark typisierend objektive Zins- und Liquiditätsvorteile erfassen, die dadurch entstünden, dass zwischen der Entstehung des Steueranspruchs und seiner Fälligkeit nach Festsetzung ein Zeitraum von mehreren Jahren liegen könne (vgl. Oosterkamp in: BeckOK AO, 22. Ed. 01.10.2022, § 233a Rn. 1). Nachzahlungszinsen seien dementsprechend weder Sanktion noch Druckmittel, sondern ein Ausgleich für die Kapitalnutzung. Die Vollverzinsung habe keine zusätzliche Lenkungsfunktion dahingehend, die Steuerpflichtigen dazu anzuhalten, ihre Steuererklärungen frühzeitig abzugeben oder etwaige Vorauszahlungen angemessen anzusetzen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 08.07.2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 - NJW 2021, 3309 Rn. 126). Die Regelung wirke sowohl zugunsten (im Fall der Steuererstattung) als auch zuungunsten (im Fall der Steuernachforderung) der Steuerpflichtigen. Darauf, ob sie tatsächlich einen Zinsvorteil oder -nachteil durch die späte Steuerfestsetzung erzielt hätten, komme es nicht an. Auch die Gründe für die späte Steuerfestsetzung und insbesondere, ob die Steuerpflichtigen oder die Behörde hieran ein Verschulden treffe, seien für die Anwendung des § 233a AO unerheblich; die Vollverzinsung nach § 233a AO entstehe unabhängig vom Verhalten der Steuerpflichtigen (BVerfG, Beschl. v. 08.07.2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 - NJW 2021, 3309 Rn. 7 m.w.N.).
V. Anders verhalte es sich hingegen im Hinblick auf die verschiedenen Funktionen der Säumniszuschläge. Der im Vergleich zu den Zinsen doppelt so hohe Säumniszuschlag sei in erster Linie ein Druckmittel eigener Art zur Durchsetzung fälliger Steuern und erfülle primär eine pönale Funktion. § 240 AO verfolge das Ziel, den Bürger zur zeitnahen Erfüllung seiner Zahlungsverpflichtungen anzuhalten und die Verletzung eben jener Verpflichtung zu sanktionieren. Daneben sei der Säumniszuschlag Gegenleistung bzw. Ausgleich für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern und diene letztlich auch dem Zweck, den Verwaltungsaufwand der Finanzbehörden auszugleichen (vgl. BFH, Urt. v. 29.08.1991 - V R 78/86 - BStBl II 1991, 906 Rn. 16; BFH, Urt. v. 30.03.2006 - V R 2/04 - BStBl II 2006, 612 Rn. 17; BFH, Beschl. v. 02.03.2017 - II B 33/16 - BStBl II 2017, 646 Rn. 32).
Die Abschöpfung von Liquiditätsvorteilen sei damit nicht Haupt-, sondern nur Nebenzweck der Regelung (vgl. bereits den Gesetzgeber: BT-Drs. 3/2573, S. 34, zu § 1 Abs. 1; BT-Drs. 8/1410, S. 3 f.; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 04.05.2022 - 2 BvL 1/22 Rn. 31, zu in § 193 Abs. 6 Satz 2 VVG geregelten Säumniszuschlägen, hierzu BFH, Beschl. v. 20.09.2022 - II B 3/22 (AdV) - BFH/NV 2022, 1328 Rn. 17). Es gehe folglich nicht um einen Vorteilsausgleich gegenüber anderen Steuerpflichtigen, sondern lediglich als Nebenzweck um einen Ausgleich gegenüber der Finanzverwaltung.
VI. Die Ausführungen des BVerfG, mit denen es eine Erstreckung der Unvereinbarkeitserklärung auf die anderen Verzinsungstatbestände, namentlich auf Stundungs-, Hinterziehungs- und Aussetzungszinsen nach den §§ 234, 235 und 237 AO, abgelehnt habe, ließen sich zudem auch auf Säumniszuschläge nach § 240 AO übertragen. Das BVerfG habe insoweit dargelegt, dass bei diesen anderen Verzinsungstatbeständen eine Verzinsung in der Regel erst nach Fälligkeit erfolge und dass die Steuerpflichtigen die Entstehung dieser Zinsen jedenfalls bewusst in Kauf nähmen und damit grundsätzlich die Wahl gehabt hätten, ob sie den Zinstatbestand verwirklichten und den in § 238 Abs. 1 Satz 1 AO geregelten Zinssatz hinnehmen wollten oder ob sie die Steuerschuld tilgten und sich im Bedarfsfall die erforderlichen Geldmittel zur Begleichung der Steuerschuld anderweitig zu zinsgünstigeren Konditionen beschaffen wollten (BVerfG, Beschl. v. 08.07.2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 - NJW 2021, 3309 Rn. 243). Diese Ausführungen gälten beim Säumniszuschlag nach § 240 AO in gleicher Weise. Auch dieser setze die Fälligkeit voraus und die Steuerpflichtigen hätten seine Entstehung bewusst in Kauf genommen. Das gelte im Übrigen auch dann, wenn die Finanzbehörden wegen Zahlungsunfähigkeit im Billigkeitswege – wie im Streitfall – die Hälfte der Säumniszuschläge erlasse. Mithin unterschieden sich die Sachverhalte zwischen zinszahlungspflichtigen Steuerpflichtigen nach § 233a AO und säumniszuschlagspflichtigen Steuerschuldnern nach § 240 AO auch insoweit.
Allein der Umstand, dass bei Säumniszuschlagspflichtigen anders als jetzt bei den zinszahlungspflichtigen Steuernachzahlern das strukturelle Niedrigzinsniveau seit 2014 nicht berücksichtigt werde, genüge für eine Vergleichbarkeit der zwei Gruppen nicht (so aber AG Wiesbaden, Beschl. v. 21.12.2021 - 92 C 1252/21 (13) Rn. 13, hinsichtlich säumniszuschlagspflichtiger Versicherungsnehmer). Denn das behandle die eigentliche Frage nach der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung bereits als Tatbestandsmerkmal der Ungleichbehandlung.
Auch innerhalb der Gruppe der Säumniszuschlagspflichtigen selbst sei keine Ungleichbehandlung gegeben.
Damit scheide ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG aus.
VII. Die Höhe des Säumniszuschlags verletze ferner nicht das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG wegen eines Verstoßes gegen das Übermaßverbot.
Der aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG folgende Anspruch des Steuerpflichtigen, nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung zur Leistung von Steuern und steuerlichen Nebenleistungen herangezogen zu werden, ermögliche es ihm auch, hierbei die Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsprinzips einzufordern. Der Steuerpflichtige dürfe nicht zu einer unverhältnismäßigen Abgabe herangezogen werden (BVerfG, Beschl. v. 03.09.2009 - 1 BvR 2539/07 - BFH/NV 2009, 2115 m.w.N.).
Die Höhe des Säumniszuschlags sei auch in einer Niedrigzinsphase durch den vom Gesetzgeber intendierten Zweck der Norm gedeckt.
In den Gesetzesmaterialien werde die Höhe des Säumniszuschlags von einem Prozent pro angefangenen Monat damit begründet, dass der Säumniszuschlag dem Fiskus zwar keine wirtschaftliche Entschädigung für die Vorenthaltung des ihm geschuldeten Steuerbetrags gewähre, sondern allein den rechtzeitigen Eingang der Steuern sicherstellen solle. Dabei dürfe aber nicht die Höhe der Kreditkosten außer Acht gelassen werden; der Säumniszuschlag dürfe nicht unter den Kosten für Kredite liegen, da sonst die Gefahr bestehe, dass Steuerpflichtige die Steuerzahlungen hinausschöben, weil diese Art der Finanzierung billiger wäre als ein Kredit auf dem Geldmarkt (BT-Drs. 3/2573, S. 34). Anders als teilweise in der Literatur vorgeschlagen (vgl. Seer, DB 2022, 1795, 1802 f.; Romswinkel, StB 2021, 101, 104), könne man sich in Bezug auf die Höhe des Säumniszuschlags also auch nicht an den Verzugszinsen des Bürgerlichen Gesetzbuchs orientieren. Nach den Gesetzesmaterialien kämen als Vergleichsmaßstab für Säumniszuschläge die Kreditkosten für Kontoüberziehungen in Betracht. Diese hätten im Herbst 1960 im Bundesgebiet jährlich 11% betragen (Monatsberichte der Deutschen Bundesbank für Oktober 1960, S. 98). Unter diesen Umständen habe zum damaligen Zeitpunkt ein Zuschlag von einem Prozent für jeden angefangenen Monat als angemessen erschienen (BT-Drs. 3/2573, S. 34). Von dieser Ausgangslage habe sich der Zinssatz für Kontoüberziehungen bis heute – gerade im Vergleich zu den sonstigen Zinsen – nicht in einem unangemessenen Umfang entfernt (vgl. z.B. BT-Drs. 19/26890, S. 1 m.w.N.).
Unabhängig von diesen Überlegungen würden säumige Steuerpflichtige durch die Höhe des Zuschlags nach § 240 AO nicht unverhältnismäßig hoch belastet. Die Gegenauffassung bringe vor, dass wegen der Verfassungswidrigkeit der Zinshöhe nach den §§ 233a, 238 AO und dem auch von der Rechtsprechung anerkannten Zinscharakter des Säumniszuschlags, der bei der Frage nach einem Erlass gemäß § 227 AO im Falle der Überschuldung eine Rolle spiele, auch der Säumniszuschlag nach § 240 AO verfassungswidrig hoch sei. Die dabei vorgebrachten Argumente, die den Säumniszuschlägen nicht nur einen (sekundären) Zinscharakter attestierten, sondern sie (anteilsweise) als Zinsen behandeln wolle, vermöchten jedoch nicht zu überzeugen.
Zur Begründung der verfassungswidrigen Höhe der Säumniszuschläge würden diese als Zinsen definiert. Dazu werde angeführt, Zinsen seien ein laufzeitabhängiges Entgelt für den Gebrauch eines auf Zeit überlassenen oder vorenthaltenen Geldkapitals. Säumniszuschläge fielen nur dann an, wenn eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstags entrichtet werde. Damit sei ihr Anfall insgesamt auf die nicht rechtzeitige Tilgung ausgerichtet, so dass es sich um ein laufzeitabhängiges Entgelt für der Finanzbehörde vorenthaltenes Geldkapital handle. Damit seien Säumniszuschläge per definitionem Zinsen, und zwar sogar in vollem Umfang (Steck, DStZ 2019, 143, 146).
Diese Argumentation überzeuge nicht, denn sie berücksichtige nicht die Möglichkeit, dass einer im Fall der nicht fristgerechten Zahlung geforderten zusätzlichen Leistung auch ein anderer Zweck zukommen könne als eine bloße Entgeltfunktion. Aus dem bloßen Umstand des Anfalls von Säumniszuschlägen bei nicht fristgerechter Zahlung auf deren Charakter als Zinsen zu schließen, werde der Intention des Gesetzgebers nicht gerecht und verkehre den primären Zweck des Säumniszuschlags, die Erzeugung von Druck auf die Steuerpflichtigen, die Steuer bis zur Fälligkeit zu zahlen, in sein genaues Gegenteil, nämlich jemandem Geld zu überlassen und dafür einen Ausgleich zu erhalten. Der Grund, weshalb allein aus der Säumnis darauf geschlossen werden könne, dass es sich um Entgelt handle, werde dementsprechend nicht erklärt, sondern vorausgesetzt. Es handle sich somit um einen Zirkelschluss.
Zudem dürften Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis nach der ausdrücklichen gesetzlichen Regelung in § 233 Satz 1 AO nur verzinst werden, soweit dies gesetzlich vorgeschrieben sei. Die Vorschrift des § 240 AO sei hier systematisch nicht zu verorten.
Auch hier überzeugten die Gegenargumente nicht. Zwar seien die Vorschriften über Zinsen und Säumniszuschläge im selben Abschnitt enthalten. Der Säumniszuschlag sei aber in einem eigenen Unterabschnitt im Zweiten Abschnitt „Verzinsung, Säumniszuschläge“ des Fünften Teils der AO „Erhebungsverfahren“ geregelt und gerade nicht als Zinstatbestand im Unterabschnitt „Verzinsung“. Den verschiedenen Regelungen in diesem Abschnitt lasse sich kein systematischer Zusammenhang dahingehend entnehmen, dass Zinsen und Säumniszuschläge wesentlich mehr verbinde, als dass es sich um steuerliche Nebenleistungen (§ 3 Abs. 4 Nr. 4 und 5 AO) im Rahmen der Erhebung handle.
VIII. Aus dem Umstand, dass § 233 Satz 1 AO nur verlange, dass die Verzinsung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis gesetzlich „vorgeschrieben“ sein müsse, ohne den Unterabschnitt „Verzinsung“ ausdrücklich in Bezug zu nehmen, lasse sich nicht schließen, dass die Zinstatbestände der §§ 233a bis 237 AO keinen abschließenden Katalog bildeten und es sich bei Säumniszuschlägen um Zinsen handle. Auch die Existenz anderer Zinsvorschriften außerhalb der AO, z.B. in § 28 ErbStG, § 12 InvZulG 2010 und § 111 des mit Ablauf des 31.12.2017 außer Kraft getretenen Branntweinmonopolgesetzes, spreche nicht zwingend dagegen, dass der Katalog der Zinstatbestände der §§ 233a bis 237 AO als abschließend betrachtet werden könne (a.A. Steck, DStZ 2019, 143, 147 f.).
Auch könne ein Zinsanteil nicht daraus hergeleitet werden, dass im Falle der Hinterziehung von Steuern Hinterziehungszinsen nach § 235 Abs. 3 Satz 2 AO nicht für Zeiträume erhoben würden, für die ein Säumniszuschlag verwirkt worden sei. Denn diese Anrechnung erfolge nicht aus dem Gedanken heraus, dass Zinsen nicht zweimal berechnet werden sollten, sondern aus Gründen des Übermaßverbots zur Vermeidung einer Belastungskumulation; der Steuerschuldner solle nicht doppelt belastet werden mit einerseits (Hinterziehungs-)Zinsen und andererseits Säumniszuschlägen.
Des Weiteren lasse sich beim Säumniszuschlag auch kein konkreter Anteil bestimmen, der als Zins behandelt werden könnte.
IX. Für die Annahme eines verfassungswidrig überhöhten und nicht mehr realitätsgerecht typisierenden Zinsanteils bedürfte es der Festlegung auf einen bestimmten prozentualen Zinsanteil als Maßstab. Einen solchen Anteil hätten weder der Gesetzgeber noch die Rechtsprechung dem Säumniszuschlag bisher zugewiesen. Vielmehr habe die Rechtsprechung im Rahmen der Ermessensentscheidung über einen Billigkeitserlass von Säumniszuschlägen bei Zahlungsunfähigkeit dem Druckmittelcharakter der Säumniszuschläge einen Anteil von 50% zugemessen (st. Rspr., z.B. BFH, Beschl. v. 14.01.2002 - XI B 146/00, unter 3.). Aus dieser Aufteilung des Säumniszuschlags im Rahmen der – eigenen rechtlichen Grundsätzen folgenden – Gewährung einer Billigkeitsmaßnahme könne jedoch nicht generell ein fester – typisierter – Zinsanteil von 6% p.a. hergeleitet werden (vgl. BFH, Beschl. v. 28.10.2022 - VI B 15/22 (AdV) - BStBl II 2023, 12 Rn. 26 f.). So habe diese Aufteilung ihren Grund nicht darin, dass die Rechtsprechung den Säumniszuschlag in dieser Höhe als Zins ansah. Vielmehr sah sie in einem Fall, in dem auf Antrag eine Stundung der Steuer möglich oder geboten gewesen wäre, einen Teilerlass als ermessensgerecht an, weil dadurch der Nebenzweck der Gegenleistung berücksichtigt werde (BFH, Urt. v. 26.04.1988 - VII R 127/85 - BFH/NV 1989, 71, unter II.), und habe als Maßstab für den Teilerlass die Stundungs- oder Aussetzungszinsen herangezogen. Damit wolle die Rechtsprechung eine Gleichbehandlung von vergleichbaren Sachverhalten sicherstellen: Der säumige Schuldner solle jedenfalls in der Höhe durch Säumniszuschläge belastet bleiben, in der im Falle der Aussetzung oder Stundung Zinsen angefallen wären (BFH, Urt. v. 29.08.1991 - V R 78/86 - BStBl II 1991, 906, unter B.II.2.b m.w.N.). Der hälftige Erlass beruhe also nicht auf der Annahme, der Zinscharakter der Säumniszuschläge sei mit einem bestimmbaren Anteil und damit in einer konkreten Höhe anzusetzen oder dass die Verzinsung nach der AO generell mit 6% p.a. erfolge und daher auch in den Säumniszuschlägen ein entsprechender Zinsanteil enthalten sei (so aber z.B. Romswinkel, StB 2021, 101, 102).
Lasse sich danach ein fester und typisierender Zinssatz der Regelung in § 240 AO nicht entnehmen, sondern komme der Norm neben ihrem primären Sanktionszweck für die nicht rechtzeitige Leistung – lediglich – auch ein Zinscharakter zu, fehle es damit aber an einer festen Größe eines Zinssatzes, die auf ihre Angemessenheit hin überprüft werden könnte.
Da ein konkreter Zinsanteil dem Säumniszuschlag nach § 240 AO nicht immanent sei, könne sich die Verfassungswidrigkeit nur aus seiner Höhe von einem Prozent für jeden angefangenen Monat der Säumnis ergeben. Ein solcher sei bereits allein zur Erzwingung der rechtzeitigen Zahlung der fälligen Steuer und zur Abgeltung des Verwaltungsaufwands verhältnismäßig und daher verfassungsrechtlich unbedenklich (gl.A. BFH, Beschl. v. 28.10.2022 - VI B 15/22 (AdV) - BStBl II 2023, 12 Rn. 28 bis 30). Dabei sei zu beachten, dass dem Gesetzgeber hinsichtlich des Übermaßes einer Beschwer ein Wertungsspielraum zur Verfügung stehe (BFH, Beschl. v. 28.10.2022 - VI B 15/22 (AdV) - BStBl II 2023, 12 Rn. 25). Gerade die Ausführungen in den Gesetzesmaterialien machten deutlich, dass sich der historische Gesetzgeber, der sich diese Ausführungen zu eigen gemacht habe, dieses Spielraums bewusst gewesen sei und ihn nicht überschritten habe. Dass die Höhe von einem Prozent pro angefangenen Monat an sich verhältnismäßig sei, werde dementsprechend nicht bezweifelt (vgl. z.B. FG München, Beschl. v. 13.08.2018 - 14 V 736/18 - EFG 2018, 1608; Heuermann in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 240 AO Rn. 19; Lemaire in: Kühn/v. Wedelstädt, 22. Aufl., § 240 AO Rn. 1; Seer, DB 2022, 1795, 1803; Steck, DStZ 2019, 143, 150).


C.
Kontext der Entscheidung
I. Verschiedene Senate des BFH haben im einstweiligen Rechtsschutzverfahren aufgrund summarischer Prüfung unterschiedlich entschieden (Füssenich, jM 2023, 34). Verfassungsrechtliche Zweifel haben der VIII. Senat des BFH (Beschl. v. 11.11.2022 - VIII B 64/22(AdV) ; Anm. Steinhauff, jurisPR-SteuerR 4/2023 Anm. 2), der V. Senat des BFH (Beschl. v. 23.05.2022 - V B 4/22 (AdV) - HFR 2022, 812), der III. Senat des BFH (Beschl. v. 28.12.2022 - III B 48/22 (AdV)) sowie zunächst auch der VII. Senat des BFH (Beschl. v. 31.08.2021 - VII B 69/21 (AdV)) geäußert (ebenfalls Rüsken in: Klein, AO, 16. Aufl., § 240 Rn. 4, und Loose in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 240 AO Rn. 1). Hingegen haben der VI. Senat des BFH in mehreren Beschlüssen (zuletzt BFH, Beschl. v. 28.10.2022 - VI B 15/22 (AdV) - BStBl II 2023, 12, zum Streitjahr 2021; Anm. Geserich, jurisPR-SteuerR 2/2023 Anm. 1) und der II. Senat des BFH (Beschl. v. 20.09.2022 - II B 3/22 (AdV)) verfassungsrechtliche Zweifel verneint. Einstweilige Rechtsschutzverfahren sind noch beim XI. Senat des BFH (Az. XI B 38/22 (AdV) und XI B 46/22 (AdV)) anhängig (vgl. Neuffer, NWB 14/2023, 958).
Nunmehr hat der VII. Senat des BFH in zwei Hauptsacheverfahren (BFH, Urt. v. 23.08.2022 - VII R 21/21 - BStBl II 2023, 304 sowie im Besprechungsurteil) ausführlich und überzeugend entschieden, dass an der Verfassungsmäßigkeit der Höhe der Säumniszuschläge keine Zweifel bestehen. Ein weiteres Revisionsverfahren zu der Rechtsfrage ist unter Az X R 30/21 anhängig.
II. Der X. Senat des BFH müsste, wollte er von der Rechtsauffassung des VII. Senats des BFH abweichen, bei Letzterem gemäß § 11 Abs. 2 FGO anfragen und, sofern dieser an seiner Rechtsauffassung festhält, die Rechtsfrage dem Großen Senat des BFH vorlegen. Hingegen kommt ein derartiges Verfahren nicht bei einer Abweichung von einer nur summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage im AdV-Verfahren in Betracht (BFH, Beschl. v. 22.04.2008 - VII R 21/07 - BStBl II 2008, 735 Rn. 24; Teller in: Gräber, FGO, 9. Aufl., § 11 Rn. 5, und ausführlich Sunder-Plassmann in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 11 FGO Rn. 30 und 35).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Es bleibt abzuwarten, ob gegen die Hauptsacheentscheidungen Verfassungsbeschwerde eingelegt wird und ggf. eine Sachprüfung durch das BVerfG erfolgt. Sowohl in diesem Fall als auch aufgrund des noch beim X. Senat des BFH anhängigen Revisionsverfahrens ist zu erwägen, ob gemäß § 363 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 AO das Ruhen von außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren gegen nach § 218 Abs. 2 AO erlassene bzw. zu erlassende Abrechnungsbescheide beantragt werden sollte. Sollen Einwendungen gegen die Verfassungsmäßigkeit der Höhe des Säumniszuschlags geltend gemacht werden, so sind diese nicht im Erlassverfahren, sondern im Verfahren gegen einen Abrechnungsbescheid geltend zu machen (BFH, Beschl. v. 09.10.2020 - VIII B 162/19 - BFH/NV 2021, 289). Unbilligen Härten im Einzelfall kann lediglich durch (Teil-)Erlass nach § 227 AO begegnet werden (vgl. BFH, Beschl. v. 28.10.2022 - VI B 15/22 (AdV) - BStBl II 2023, 12 Rn. 32; OVG Münster, Beschl. v. 29.04.2022 - 14 B 403/22 - ZKF 2022, 216; ausführlich Loose in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 240 AO Rn. 55 ff. m.umf.Nachw.).
Ob ein Erlass von 6% p.a. nach § 227 AO im Falle der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung angesichts eines Niedrigzinsniveaus verfassungsgemäß ist, war im vorliegenden Verfahren nicht zu überprüfen.



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