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Anmerkung zu:LSG Chemnitz 1. Senat, Urteil vom 21.09.2022 - L 1 KR 365/20
Autor:Hinnerk Timme, Vors. RiLSG a.D.
Erscheinungsdatum:01.06.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 7 SGB 9, § 44 SGB 11, § 42 SGB 9, § 40 SGB 5, § 42 SGB 5, § 29 SGB 1, § 74 SGB 5, § 19 SGB 4, § 60 SGB 5
Fundstelle:jurisPR-SozR 11/2023 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Dr. Thomas Voelzke, Vizepräsident des BSG a.D.
Jutta Siefert, Ri'inBSG
Zitiervorschlag:Timme, jurisPR-SozR 11/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Keine Übernahme von Fahrkosten zur Arbeitsstelle während der stufenweisen Wiedereingliederung



Orientierungssätze zur Anmerkung

1. Versicherte haben nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung keinen Anspruch auf Übernahme der Fahrkosten zur Arbeitsstelle während einer stufenweisen Wiedereingliederung.
2. Die stufenweise Wiedereingliederung ist im SGB V nicht als Leistung zur medizinischen Rehabilitation ausgestaltet.
3. Die (vorherige) Antragstellung ist keine materiell-rechtliche Voraussetzung für die Entstehung eines Fahrkostenanspruchs nach § 60 Abs. 5 SGB V.



A.
Problemstellung
Handelt es sich bei der stufenweisen Wiedereingliederung ins Erwerbsleben nach § 74 SGB V um eine medizinische Rehabilitationsleistung, für die Fahrkosten zur Arbeitsstelle gemäß § 60 Abs. 5 SGB V von der Krankenkasse zu erstatten sind?


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der bei der Beklagten krankenversicherte Kläger erkrankte vom 06.08. bis 16.12.2018 arbeitsunfähig und bezog währenddessen Krankengeld. Rehabilitationsleistungen erhielt er nicht. Am 27.11.2018 erhielt die Beklagte den am 22.11.2018 erstellten Wiedereingliederungsplan der Hausärztin, wonach die stufenweise Wiedereingliederung vom 08.12. bis 14.12.2018 stattfinden sollte und dem der Kläger, sein Arbeitgeber und die Beklagte zustimmten.
Der Kläger beantragte am 12.12.2018 die Übernahme der Fahrtkosten (10 Arbeitstage, Entfernung Wohnort zur Arbeitsstelle 20 km), den die Beklagte mit Bescheid vom 14.12.2018 und Widerspruchsbescheid vom 21.02.2019 ablehnte, weil es sich bei der stufenweisen Wiedereingliederung nicht um eine medizinische Rehabilitation handle.
Auf die hiergegen erhobene Klage verurteilte das Sozialgericht die Beklagte unter Zulassung der Berufung zur Zahlung von 85,00 Euro (Betrag für die Benutzung eines regelmäßig verkehrenden öffentlichen Verkehrsmittels der niedrigsten Klasse) gemäß § 60 Abs. 5 SGB V i.V.m. § 73 Abs. 1 und 3 SGB IX, weil es sich bei der stufenweisen Wiedereingliederung wegen ihres therapeutischen Zwecks um eine medizinische Rehabilitationsleistung handle, mit der die Fahrkosten in Zusammenhang stehen.
Das LSG Chemnitz hat das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen.
An dem späten Antrag erst am 12.12.2018 scheitere der Anspruch nicht, weil die (vorherige) Antragstellung keine materiell-rechtliche Voraussetzung des Anspruchs sei. Das Antragserfordernis des § 19 SGB IV habe nur materiell-rechtliche Bedeutung, wenn sich dies aus der Leistungsnorm ergebe. Das sei nur in Fällen der Sonderregelungen nach § 60 Abs. 1 Sätze 3 und 4 SGB V der Fall, nicht jedoch bei dem hier in Betracht kommenden Fahrkostenanspruch nach § 60 Abs. 5 SGB V. Der Anspruch scheitere aber daran, dass es sich hierbei nicht um eine medizinische Rehabilitationsleistung der gesetzlichen Krankenversicherung handle. Maßgebend dafür sei § 40 SGB V und nicht, was das SGB IX in den §§ 42 ff. SGB IX zu den medizinischen Rehabilitationsleistungen zähle. Das folge aus § 7 Abs. 1 SGB IX, wonach Vorschriften des SGB IX nur dann Anwendung fänden, wenn in dem SGB V nichts Abweichendes vorgesehen sei. Im SGB V sei die stufenweise Wiedereingliederung aber nicht als Leistung zur medizinischen Rehabilitation ausgestaltet. Das folge aus der Stellung des die stufenweise Wiedereingliederung regelnden § 74 SGB V im Vertragsarztrecht, der vor allem dem Versicherten keinen Anspruch auf diese Leistung einräume. Sie werde auch nicht von der Krankenkasse selbst erbracht, sondern nur unterstützt.
Die stufenweise Wiedereingliederung sei auch nicht mit Belastungserprobung und Arbeitstherapie nach § 42 SGB V vergleichbar, die auf Feststellung der Belastbarkeit bzw. Nutzung des Erwerbs und der Verbesserung von Grundarbeitsfähigkeiten, um Krankheiten zu behandeln, gerichtet seien. Erst wenn die stufenweise Wiedereingliederung im Zusammenhang mit einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation erfolge, könne sie selbst den medizinischen Rehabilitationsleistungen zuzuordnen sein. Weder von der Beklagten noch von einem Rentenversicherungsträger habe der Kläger aber Leistungen zu Teilhabe erhalten.


C.
Kontext der Entscheidung
§ 60 SGB V regelt die Ansprüche der Versicherten gegen die Krankenkassen auf Übernahme von Fahrkosten abschließend. Anspruchsgrundlage für Fahrkosten einschließende Reisekosten im Zusammenhang mit Leistungen zur medizinischen Rehabilitation ist Absatz 5 der Vorschrift. Voraussetzung ist mithin, ob die vom Kläger wahrgenommene stufenweise Wiedereingliederung selbst eine medizinische Rehabilitationsleistung ist, da er außer der ambulanten Behandlung und Heilmittel (Physiotherapie) keine weiteren Leistungen, auch nicht vom Rentenversicherungsträger, in Anspruch genommen hat. Allgemeine Leistungsvorschrift für medizinische Rehabilitationen ist im § 40 SGB V. Zutreffend weist das LSG Chemnitz darauf hin, dass diese bzw. Vorschriften des SGB V im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung grundsätzlich Vorrang haben vor denen des SGB IX über die Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen. Das folgt aus § 7 Abs. 1 SGB IX, wonach Zuständigkeit und Voraussetzungen für die Teilhabe sich nach den für den jeweiligen Rehabilitationsträger geltenden Leistungsgesetzen richten. Im SGB V ist jedoch die stufenweise Wiedereingliederung nicht als Leistung zur medizinischen Rehabilitation ausgestaltet. Anders als im SGB IX, wo die stufenweise Wiedereingliederung mit § 44 SGB XI im Leistungsrecht verortet ist, ist diese im SGB V im Leistungserbringerrecht, und dort im Vertragsarztrecht, aufgeführt.
Das war im Referentenentwurf noch nicht der Fall. Dort war die Vorschrift noch im Leistungsrecht aufgeführt. Durch die Regelung sollten insbesondere die Ärzte auf die Möglichkeit der stufenweisen Wiedereingliederung hingewiesen werden (vgl. Knorr/Krasney, Entgeltfortzahlung – Krankengeld – Mutterschaftsgeld, § 74 SGB V Rn. 2). Dem Gesetzgeber war die Stellung der Norm im Gesetz damit durchaus bewusst. Das SGB IX hat zudem die stufenweise Wiedereingliederung auch nicht in dem – allerdings nicht abschließenden – Katalog der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in § 42 Abs. 2 SGB IX aufgeführt. § 74 SGB V räumt, worauf das Landessozialgericht zutreffend hinweist, dem Versicherten, anders als bei den in § 40 SGB V geregelten Rehabilitationsmaßnahmen, keinen Anspruch auf diese Leistung ein und die Leistung wird auch nicht „durch die Krankenkasse“ erbracht. Zentrale Akteure sind vielmehr der Versicherte als Arbeitnehmer und sein Arbeitgeber. Die Krankenkasse ist, durch weitere Zahlung des Krankengeldes, lediglich unterstützend tätig und der Arzt bescheinigt letztlich nur die dem Versicherten (noch oder wieder) möglichen Tätigkeiten. Damit kommt die stufenweise Wiedereingliederung auch nur bei einem bestehenden Arbeitsverhältnis in Betracht. Medizinische Leistungen sind im Rahmen einer Wiedereingliederung nicht ersichtlich.
Darin unterscheidet sich die Wiedereingliederung wesentlich von der in § 42 SGB V geregelten Belastungserprobung und Arbeitstherapie. Beide Maßnahmen verfolgen einen medizinischen Zweck (Waßer in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, 4. Aufl., § 42 Rn. 11, 19) und werden, anders als die Wiedereingliederung nach § 74 SGB V, von der Aufzählung der Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in § 29 Abs. 1 Nr. 1e) SGB I ausdrücklich erfasst.


D.
Auswirkungen für die Praxis
Mit seiner Entscheidung weicht das LSG Chemnitz bewusst von der Entscheidung des LSG Neustrelitz ab, das in seinem Urteil vom 28.05.2020 (L 6 KR 100/15) die stufenweise Wiedereingliederung als medizinische Rehabilitationsleistung bewertet und als ergänzende Leistung einen Anspruch auf Fahrkostenerstattung grundsätzlich bejaht. Diese Entscheidung setzt sich allerdings nicht mit der in § 74 SGB V die Wiedereingliederung besonders regelnden Vorschrift und ihrer systematischen Verortung im SGB V auseinander. Eine bundesweit einheitliche Regelung wird voraussichtlich durch die vom LSG Chemnitz zugelassene und eingelegte Revision mit dem Aktenzeichen B 1 KR 4/23 R erreicht werden.
Allerdings sind Fahrkosten zur Arbeitsstelle nicht in jedem Fall ausgeschlossen. So sieht das LSG Chemnitz einen Anspruch auf Fahrkostenerstattung dann als gegeben an, wenn die Wiedereingliederung mit einer medizinischen Rehabilitationsleistung in einem so engen Zusammenhang steht, dass sie als ein auf das Rehabilitationsziel zu beziehender Bestandteil einer in der Zusammenschau einheitlichen (Gesamt-)Maßnahme gewertet werden kann und zitiert hierzu Rechtsprechung des BSG (u.a. BSG, Urt. v. 29.01.2008 - B 5a/5 R 26/07 R - SozR 4-3250 § 51 Nr 1).


E.
Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung
Eine (vorherige) Antragstellung auf Bewilligung von Fahrkosten hat das LSG Chemnitz nicht als notwendige Voraussetzung des Anspruchs angesehen, weil das Antragserfordernis des § 19 SGB IV nur im verfahrensrechtlichen Sinne zu verstehen sei, d.h., dass ohne Leistungsantrag des Versicherten nicht über den Leistungsanspruch entschieden werden dürfe. Gleichwohl könne dem Leistungsantrag auch materiell-rechtliche Bedeutung zukommen, wenn sich dies aus der Anspruchsnorm ergibt (BSG, Urt. v. 28.05.2019 - B 1 A 1/18 R - SozR 4-2500 § 11 Nr 5). Das sei, so das Landessozialgericht, bei dem Anspruch aus § 60 Abs. 5 SGB V nicht der Fall. Letztlich kann eine Klärung dieser Frage, ob dem Antrag auf Erstattung von Reisekosten nach § 60 Abs. 5 SGB V neben seiner verfahrensrechtlichen Bedeutung auch eine materiell-rechtliche zukommt, auf die Frage reduziert werden, ob eine „vorherige“ Antragstellung bei Ansprüchen auf Reisekosten nach § 60 Abs. 5 SGB V materiell-rechtlich erforderlich ist, da ein Antrag ja letztlich vom Kläger, wenn auch nicht vor der Entstehung der Fahrkosten, am 12.12.2018 gestellt wurde. Und dass der Antrag nach § 60 Abs. 5 SGB V vor der Entstehung der Fahrkosten gestellt werden muss, ist der Norm, worauf das LSG Chemnitz zutreffend hinweist, anders als in § 60 Abs. 1 SGB V (vgl. BSG, Urt. v. 13.12.2016 - B 1 KR 2/16 R) gerade nicht zu entnehmen.



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